In der Zeitschrift „Brain Scienes“ (deutsch: Gehirnwissenschaften) erschien eine Studie aus Italien, die von Juni 2019 bis März 2020 durchgeführt und 2020  veröffentlicht wurde. Es wurden 199 Patienten mit bipolarer Störung untersucht, davon hatten 101 Teilnehmer die Diagnose: Bipolar I. 51 % der Teilnehmer wurden mit Lithium behandelt.

In der Studie ging es darum herauszufinden, ob einen Zusammenhang zwischen dem Kalziumgleichgewicht und psychiatrischen Störungen, wie z.B. der bipolaren Störung gibt.

Das Ergebnis war, dass erhöhte Parathormonspiegel-Spiegel (Abkürzung PTH) mit einem schlechteren Verlauf und einer hohen psychischen Belastung bei Bipolar-Patienten korrelieren. Das bedeutet: Je höher der PTH-Spiegel, umso schwerer die Bipolare Störung! Die Autoren schlussfolgern, dass ein Kalziumungleichgewicht das langfristige Outcome (deutsch: Ergebnis, hier Erscheinungsbild) der bipolaren Störung beeinflussen kann, und unterstreichen die Bedeutung einer routinemäßigen Bestimmung der Parathormon-, Vit D- und Kalziumspiegel bei diesen Patienten als Marker für den klinischen Schweregrad.

Was ist an dieser Studie so interessant?

Es wurde gezeigt, dass es einen messbaren Zusammenhang zwischen dem Parathormonspiegel und der Bipolaren Störung gibt. Das ist bemerkenswert!

Warum ist das bemerkenswert?

Anhand dieser Studie wird gezeigt, dass bei Menschen mit bipolaren Störungen höhere Parathormonspiegel gemessen werden. Das Parathormon ist der regulatorische Gegenspieler zum Vitamin D. Er ist nur dann erhöht, wenn es einen Vitamin D Mangel gibt. Auch in anderen Studien wurde ein signifikanter Zusammenhang zwischen Vitamin-D-Mangel und Schweregrad der Erkrankung gefunden. Ein hoher Parathormonspiegel führt zu einer geringeren Kalziumausscheidung über die Niere, was wiederum zu einer höheren Phosphat- und Magnesiumausscheidung führt. Wird mehr Magnesium ausgeschieden, entsteht ein Magnesiummangel. Man kann also schlussfolgern, dass Menschen mit bipolaren Störungen von einer Vitamin D und Magnesium Zufuhr profitieren, weil dann die Parathormon Spiegel sinken können und die Störung mit weniger schweren Symptomen einhergeht.

Des Weiteren ist der Kalzium-Stoffwechsel direkt an der Serotonin-Biosynthese beteiligt und korreliert mit Stimmungsschwankungen und impulsivem Verhalten. Wird das Kalziumgleichgewicht wieder hergestellt, können Stimmungsschwankungen beherrschbarer werden. Das Parathormon ist dafür ein zuverlässiger Marker.

Des Weiteren erhöht auch die pharmakologische Behandlung mit Lithium den Parathormonspiegel. Obwohl die tatsächliche Prävalenz (deutsch: Häufigkeit einer Krankheit oder eines Symptoms) dieses Phänomens unklar ist, weisen etwa 25 % der mit Lithium behandelten Patienten Störungen in der Kalziumhomöostase (deutsch: Prozess, bei dem der Kalziumspiegel im Blut im optimalen Bereich gehalten wird) auf. Lithium interagiert mit dem Calcium-Sensorik-Rezeptor und verursacht intrazelluläre Veränderungen des Calciumspiegels in den Nebenschilddrüsen-Hauptzellen, wodurch die Parathormon-Sekretion beeinflusst wird.

Daraus kann man schlussfolgern, dass Bipolare, die Lithium nehmen, besonders gut labortechnisch überwacht werden sollten, um sicherzustellen, dass es nicht zu einer unbemerkten Störung im Kalziumgleichgewicht kommt, was andere Nebenwirkungen oder Komorbiditäten mit sich bringt. Lithium Patienten sollten ihren Vitamin D-, Kalzium-, Magnesium- und Parathormonspiegel kennen und – sofern erforderlich – ausgleichen. Dazu sind Blutspiegelmessungen unverzichtbar.

Hier einige Aussagen aus der Studie:

  • Das Parathormon reguliert die Spiegel von außerhalb der Zelle zirkulierendem und intrazellulären Kalzium im zentralen Nervensystem, also dem Gehirn, aber auch im Muskel-Skelett-System, dem Immunsystem und ist auch an mehreren Entzündungsprozessen als Regulator beteiligt.
  • Die Kalziumkonzentration im Blut muss für das richtige Funktionieren von Zellen im Gleichgewicht sein.
  • Das Parathormon hält diesen Kalzium-Spiegel im Blut in einem engen Rahmen. Dieses Gleichgewicht reguliert auch den Kalziumtransport im Darm, in der Niere und im Knochen.
  • Strömt zu viel Kalzium über Kalziumkanäle in die Zellen hinein (eine sogenannte Kalziumüberladung), kann die Zelle krank werden und sogar absterben. Man spricht dann von Neurodegeneration.
  • Sind die Kalziumspiegel innerhalb der Zelle zu hoch, vermindert das den Blutfluss, also die Versorgung der Zellen mit Nährstoffen. Zellen, die nicht mehr richtig versorgt werden, können krank werden, z.B. entzünden. Wenn Gehirnzellen krank werden, spricht man von neuronalen Schäden.
  • Deshalb werden erhöhte Parathormonspiegel, die auf eine Kalziumüberladung hinweisen, mit neuronalen Schäden in Verbindung gebracht, die mit dem Auftreten von psychiatrischen Symptomen einhergeht.

Bildquelle: Lu Song, Universität of California, Los Angeles, 2017, mit dem Titel „Indizes für Kalzium und Knochenstoffwechsel“ DOI: 10.1016/bs.acc.2017.06.005

Die folgenden Aussagen stammen aus dem Buch von Prof. Jörg Spitz und Sebastian Weiß „Vitamin D – immer wenn es um Leben und Tod geht“ (S.29 ff.) und sollen die Zusammenhänge zur Studie besser verständlich machen:

  • Das Parathormon ist auch der Gegenspieler von Vitamin D.
  • Vitamin D ist ebenfalls für die Kalziumstoffwechsel im Blut zuständig.
  • Sinkt der Vitamin D Spiegel im Blut und ist damit die Kalziumaufnahme aus dem Darm nicht mehr sichergestellt, steigt kompensatorisch das Parathormon aus den Nebenschilddrüsen im Serum an, wodurch vermehrt Kalzium aus den Knochen mobilisiert wird, um den Kalziumspiegel im Blut in einem engen Rahmen konstant zur halten
  • Das kann man messen. Die niedrigsten Parathormonspiegel finden sich bei Vitamin-D-Spiegel von 40 ng/ml. Das ist ein zuverlässiger Marker für die Spiegelbestimmung.

Daraus kann man schlussfolgern, dass ein hoher Parathormonspiegel ein Anzeichen für einen geringen Vitamin D Spiegel bzw. das Sinken des Parathormons ein Anzeichen für das Ansprechen auf Vitamin D ist.

Nun weiter mit den Aussagen aus der o.g. Studie:

  • Im Gehirn regt Vitamin D die Gehirnzellen an, verschiedene Wachstumsfaktoren zu produzieren, die für den Schutz und das Wachstum von Gehirnzellen, sogenannten Neuronen, nötig sind. Über einen Vitamin D-Rezeptor, so eine Art Schlüssel-Schloss-System, um einen kontrollierten Zugang zum Inneren der Zelle zu erhalten, wird mithilfe von Vitamin D in der Gehirnregion mit dem Namen Amygdala Verhalten und emotionale Reaktionen reguliert. Dort wirken noch andere Stoffe, Vitamin D ist einer davon. Des Weiteren hemmt Vitamin D Entzündungsfaktoren, wie z.B. Interleukin 1 und 6, TNF-alpha und NF-kB.
  • Darüber hinaus gibt es Hinweise darauf, dass Vit D die Bildung von Neurotransmittern, wie z. B. Serotonin moduliert und damit die Stimmung und deren Veränderungen maßgeblich beeinflusst.
  • Mehrere Studien weisen darauf hin, dass erniedrigte Blutspiegel von Vit D an Demenz, Parkinson und psychiatrischen Störungen, insbesondere affektiven Störungen, beteiligt
  • Bei der bipolaren Störung wurde ein signifikanter Zusammenhang zwischen Vitamin-D-Mangel und Schweregrad der Erkrankung gefunden.
  • Dies könnte auf verschiedene Faktoren zurückzuführen sein. Der Kalzium-Stoffwechsel ist direkt an der Serotonin-Biosynthese beteiligt und korreliert mit Stimmungsschwankungen und impulsivem Verhalten; außerdem wurde eine Abnahme der neuronalen Plastizität (deutsch: Anpassungsfähigkeit des Gehirns) in verschiedenen Hirnregionen, die an der bipolaren Störung beteiligt sind, als Folge eines Vitamin-D-Mangels festgestellt.
  • Schließlich unterstützt die generalisierte und chronische Entzündung, die mit einem Kalziumungleichgewicht einhergeht, eine Aktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-Achse was zu einer Veränderung der Stimmung führt. (deutsch: die HPA-Achse wird auch als „Stress-Achse“ bezeichnet, weil in diesen Hormondrüsen die an der Stressreaktion beteiligten Stoffe gebildet werden und miteinander wechselwirken. Eine Aktivierung der HPA-Achse bedeutet, dass Stresshormone ausgeschüttet werden. Stress ist einer der wichtigsten Trigger für Stimmungsschwankungen und akute Phasen)
  • Daher können Kalzium-, Vit D- und PTH-Spiegel als Marker für chronische Entzündungen und folglich auch für chronische Neuroinflammation (deutsch: Entzündungen im Gehirn) verwendet werden.
  • Tatsächlich weisen Patienten mit einer akuten manischen Episode niedrigere Serumkonzentrationen von Vitamin D auf, verglichen mit gesunden Kontrollen und Patienten in Remission.
  • Mehrere Studien haben den Zusammenhang zwischen Kalziumstoffwechsel und Stimmungsschwankungen gezeigt.
  • Das Parathormon kann als ein genauerer Marker für ein chronisches Ungleichgewicht der Kalziumhomöostase angesehen werden. Deshalb wurden in dieser Studie die drei Parameter gemessen: Kalziumspiegel, Vitamin D-Spiegel und Parathormon.

Nun noch einige Aussagen zum Thema Lithium, die aus der Studie stammen:

  • Des Weiteren erhöht auch die pharmakologische Behandlung mit Lithium den Parathormonspiegel. Dieses Ergebnis steht im Einklang mit verfügbaren Studien, die festgestellt haben, dass eine Langzeitbehandlung mit Lithium die Nebenschilddrüsenfunktion stimuliert, was zu einem sekundären Hyperparathyreoidismus (deutsch: Regulationsstörung der Nebenschilddrüsen) führt.
  • Obwohl die tatsächliche Prävalenz dieses Phänomens unklar ist, weisen etwa 25 % der mit Lithium behandelten Patienten Störungen in der Kalziumhomöostase
  • Lithium interagiert mit dem Calcium-Sensorik-Rezeptor und verursacht intrazelluläre Veränderungen des Calciumspiegels in den Nebenschilddrüsen-Hauptzellen, wodurch die Parathormon-Sekretion beeinflusst wird.

Mein Kommentar: Ich verstehe diese Aussagen so, dass Betroffene, die mit Lithium behandelt werden, auch ihren Parathormonspiegel kennen sollten, ist dieser zu hoch, sollte mit Vitamin D gegengesteuert werden, allerdings ebenfalls spiegelkontrolliert, also durch Messung!

Die Studienautoren kommen zu dem Schluss:

  • Es wurde ein Zusammenhang zwischen höheren Parathormonwerten und bipolarer Störung I, dem Vorhandensein psychotischer Merkmale in akuten Phasen, der Saisonalität und einer Vorgeschichte mit Suizidversuchen festgestellt.
  • Eine offensichtliche, aber weniger signifikante Beziehung wurde zwischen den Kalzium- und Vit D-Spiegeln und der Symptomschwere gefunden. Dieses Ergebnis, das mit früheren Studien übereinstimmt, bestätigt die Rolle des Kalziumstoffwechsels für die Stimmungsstabilität, wobei Patienten mit einem Ungleichgewicht des Kalziumstoffwechsels ein schlechteres Ergebnis und einen höheren Schweregrad der Erkrankung aufweisen.

Welche Spiegel wurden in der Studie als Normalbereich angesehen?

  • Vitamin D: 30 – 100 ng/ml à die Studienteilnehmer hatten im Durchschnitt 42,57 ng/ml
  • Serum-Kalzium: 9 – 10,7 mg/dl à die Studienteilnehmer hatten im Durchschnitt 9,42 ng/ml
  • Parathormon: 7 – 10 pmol/l à die Studienteilnehmer hatten im Durchschnitt 42,6 pmol/l

Mein Kommentar zum Vitamin D Spiegel: Im Vergleich zum deutschen Durchschnitt sind die gemessenen Spiegel der italienischen Probanden deutlich höher als bei uns. Im Durchschnitt hat die deutsche Bevölkerung einen Vitamin D-Spiegel von ca. 16 ng/ml.

Wie hoch sind dann wohl die Parathormonspiegel von Betroffenen, die kein Vitamin D nehmen.

Zusammenfassung der Autoren:

„Zusammenfassend lässt sich sagen, dass erhöhte PTH-Spiegel mit einem schlechteren Outcome (Ergebnis) und einer hohen psychischen Belastung bei Bipolar Disorder-Patienten korrelieren. Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass ein Kalziumungleichgewicht das langfristige Ergebnis der bipolaren Störung beeinflussen kann, und unterstreichen die Bedeutung einer routinemäßigen Bestimmung der Parathormon-, Vit D- und Kalziumspiegel bei diesen Patienten als Marker für den klinischen Schweregrad.“

Und was nicht in der Studie steht: Die Bestimmung der Spiegel allein reicht natürlich nicht, es muss auch aktiv etwas getan werden, nämlich Messung und ggf. auffüllen und ausgleichen.

Den ins Deutsche übertragenen Text der Studie finden Sie hier: https://bipolar-lotse.de/klinischer-schweregrad-und-calcium-stoffwechsel/